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EINLEITUNG
Ausgangslage
Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen beschäftigt in Ursache und Auswirkung Eltern, Pädagogen und Therapeuten – besonders dann, wenn es auffällig wird. Neben den Erklärungen zum auffälligen Verhalten zielt pädagogische Intervention auf Veränderung ab, und wenn diese im Elternhaus und in der Schule nicht gelingt und der Unterstützung bedarf, können die Hilfen zur Erziehung zuständig werden, beziehungsweise müssen diese bei entsprechender Antragstellung tätig werden. Das bedeutet in einigen Fällen, dass die Familie nicht mehr alleine den Erziehungsauftrag wahrnimmt, sondern unterstützende Systeme hinzugezogen werden.
Neben einer deutlichen Entwicklung der Hilfen zur Erziehung hin zur Flexibilität und Vielfalt, die eine Kultur von Mitbewerberschaft in allen Ausformungen fördert, ist auf der anderen Seite ein roter Faden für die pädagogische Praxis kaum zu erkennen, wenn pädagogische Intervention auf die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) trifft. Sie entsteht
„als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (Dilling/Mombour/Schmidt 2008, 183f).
Die psychischen und psychosomatischen Folgen können über Monate und Jahre hinweg andauern und bedürfen einer entsprechend intensiven und umfassenden Behandlung. Belastende Ereignisse, die über Jahre hinweg andauern, wie zum Beispiel sexuelle Ausbeutung in der Kindheit, können nicht vergessen werden und bleiben Teil der Biographie, dadurch prägen sie das Verhalten und Erleben eines Individuums maßgeblich. Es ist in vielen Fällen klar bewiesen und diagnostiziert, dass die Kinder und Jugendlichen unter den Folgen leiden. Auffällige Verhaltensweisen lassen sich somit zuordnen und erklären.
Um adäquate Hilfsansätze entwickeln und gravierenden Folgeerscheinungen präventiv entgegenwirken zu können, ist in der (Fach-)Öffentlichkeit in den letzten Jahren immer mehr der Begriff des „Traumas“ in den Fokus gerückt – die Psychotraumatologie liefert aus ihrer Sicht Hintergrundwissen über die Entstehung von Störungen, die auch die Entwicklung von Kindern betreffen, und berichtet von hilfreicher therapeutischer Intervention.
Auch die stationäre Heimerziehung kann dieses Know-how in ihre Konzepte integrieren und die bestmögliche Förderung und Heilung aus traumapädagogischer Sicht für die Kinder und Jugendlichen, die ihr anvertraut sind, zu erreichen versuchen.
Die in den letzten Jahren erreichte Flexibilität und Individualität der einzelnen Hilfen deutet insgesamt auf ein Konglomerat der unterschiedlichsten Interventionsformen hin, deren Wirksamkeit im Einzelfall subjektiv erlebbar aber methodisch für den pädagogischen Kontext kaum überprüft ist und auch aus traumapädagogischer Sicht der Überprüfung bedarf.
Sowohl im Bezugsrahmen der Jugendhilfe wie auch in der Traumatologie bildet ein gesellschaftliches Interesse die Grundlage von Überprüfungen und Fragestellungen dieser Art, wenn es darum geht, jungen Menschen Chancen im Leben zu eröffnen und, falls notwendig, Heilung zu ermöglichen. Nicht nur die demographische Entwicklung wirft gesellschaftliche Fragen der Zukunft auf, sondern auch die Frage: Wie geht die Gesellschaft mit ihren Kindern um? Fachliche Antworten werden insbesondere dann erwartet, wenn es um Konzepte für psychosoziale Interventionen geht und allgemeine Sozialisationsgrundsätze der Spezialisierung bedürfen. Eine besondere Herausforde-rung, die angenommen werden muss, ist der Fokus auf die Kinder und Jugendlichen in der stationären Heimerziehung, sehen diese sich selber doch häufig bereits ‚als verloren‘ an. Klinische Settings und Therapieangebote reichen nicht aus, wenn pädagogische langfristige Unterstützung einsetzen muss. Inhalte von Netzwerkarbeit sind häufig nicht hinreichend geklärt, die Positionierung von Traumapädagogik ist noch nicht weiter erfolgt.
Allgemeine Frage- und Problemstellungen
Innerhalb der Jugendhilfe, wie nach den §§ 27 des Sozialgesetzbuches VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz)1 geregelt, nehmen die stationären Maßnahmen, die so genannte Heimerziehung, eine besondere Rolle ein:
1. Sie macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, somit die Familie als Sozialisationsinstanz in diesen Fällen ausfällt, Entwicklungsprobleme von den Kindern und Jugendlichen entweder (mit-) verursacht oder diesbezüglich entstehende Probleme nicht bewältigt werden können – auch nicht mit Unterstützung.
2. Sie ist teuer.
In diesem Bereich tätige Einrichtungen sind gefordert, den Erziehungsauftrag in geeigneter Form wahrzunehmen und das einzelne Kind und den einzelnen Jugendlichen in einer Art und Weise zu fördern, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Wird diese Zielsetzung mit psychotraumatologischen Erkenntnissen in Verbindung gesetzt, wird deutlich, dass die Förderung der menschlichen Entwicklung einhergeht mit der sorgfältigen Erkenntnis der Zusammenhänge tiefgreifender Einflüsse psychosozialer Erfahrungen im Kindesalter mit organischen Krankheiten, psychischen Störungen und auffälligem Sozialverhalten im Erwachsenenalter. Die Studie zu Kindheitstrauma und Gewalt liefert
„Erklärungshilfen dafür, wie Eltern, die Schuld, Scham, Erniedrigung, Frucht und andere Formen des emotionalen Missbrauchs induzieren, die Bühne bereiten für Deformierungen des Charakters, des Verhaltens und der Persönlichkeit, die über neuronale Netzwerke regelrecht <fest verdrahtet> werden“ (Felitti/Fink/Fishkin/Anda 2007).
Die Bedeutung einer pädagogischen Relevanz stellt sich im Kontext der zunehmenden medizinialisierten Konzeptualisierung als Faktor eines komplementären Verständnisses heraus, um zum Beispiel eben benannte Verdrahtungen frühzeitig zu lösen und bessere zu schaffen – als Voraussetzung für den Einzelnen, in die soziale Teilhabe zu kommen. Dabei treten die auffälligen Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen, die indikativ für eine Aufnahme in die entsprechenden Arrangements wirken, in den Vordergrund, wird doch daran erkennbar, dass Entwicklungsverläufe anders als erwünscht verlaufen. Dabei nimmt die stationäre Heimerziehung eine zentrale Rolle ein.
Die stationären Formen der Hilfen zur Erziehung werden eher allgemein als Arrangements, fungierend in ihrer Alltagsstruktur, vielerorts als therapeutisches Milieu oder dichtes Netz individueller Hilfsangebote (vgl. BMSFFJ 1998, 44) beschrieben und wirken nach wie vor häufig möglicherweise wegen ihrer Vielzahl aufgrund der Individualität unübersichtlich.
Während der Heimerziehung durchaus positive Wirkungen/Entwicklungsverläufe attestiert werden (s. 2), bleibt unklar, welche gezielten Interventionen innerhalb von Heimerziehung auf individuell biographisch Belastendes positiv wirken. Biographisch Belastendes kann symptomatisch an auffälligem Verhalten, das Kinder und Jugendliche zeigen, deutlich werden.
Kinder und Jugendliche werden in ihrer Entwicklung durch Erfahrungen von zum Beispiel Verwahrlosung, Bindungsunsicherheiten, Gewalt und weiteren traumatisierenden Ereignissen wesentlich beeinträchtigt. Die Anstrengungen um Sozialisation als Prozess, der vorwiegend das Individuum in die Lage versetzen soll, Erlebnisformen und Verhaltensweisen zu entwickeln, die eigenen und anderen Bedürfnissen entsprechen und der gekennzeichnet ist durch die Symmetrierung von Beziehung (vgl. Fröhlich 2005, 447), gelten primär dem Ziel von Heimerziehung, insgesamt aber auch den Zielen der Interventionsformen in all ihrer Unterschiedlichkeit. Wenn es um die Verringerung des auffälligen Verhaltens geht in Verbindung mit korrektiven Erfahrungen und dem Erlernen von nicht schädigendem Verhalten geht es ebenso um die Dimension, die Individualisierung des Leidens zu durchbrechen
„und gesellschaftliche und sozialpolitische Bedingungen zu schaffen, in denen traumatisierte Mädchen und Jungen und erwachsene Menschen nicht auf das Opfersein reduziert werden, sondern in sozialen Bezügen für das Leben lernen und sich Grundlagen für ein gutes Leben schaffen können“ (Weiß 2011, 23).
Es bleibt die Frage, in welchem Maße sich eine Verringerung des individuellen Leidens sowohl quantitativ wie auch qualitativ entweder zufällig ereignet oder gezielt erreicht wird.
Ein anerkannter Träger der Jugendhilfe eröffnete eine stationäre pädagogische Einrichtung für Kinder und Jugendliche, die an der PTBS leiden (vgl. Dilling/Mombaur/ Schmidt/Markwort 2000, 121ff und Saß/Wittchen/Zaudig/Houben 2003, 193ff). Zugrunde gelegt wurde in dieser neuen Einrichtung ein spezielles Behandlungs- und Betreuungsprogramm, das ausgehend vom derzeitig aktuellen pädagogischen Kenntnisstand der Psychotraumatologie entwickelt wurde. Die besondere pädagogische Herausforderung besteht in der Annahme der Herausforderung der Wahrnehmungsmuster, der Störungen und Verhaltensweisen, die traumatische Ereignisse nach sich ziehen können, unter zunächst einmal dem Verzicht auf psychotherapeutische Hilfen, die Pädagogen und Erzieher gerade auch im Alltag einer Heimstruktur nicht anwenden können beziehungsweise hierfür nicht explizit ausgebildet sind.
Die Modelle der Psychotraumatologie und, bisher damit fast gleich lautend, die Konzepte der Traumapädagogik zielen auf die Durchführung von Phasenmodellen, die die Aufarbeitung, Integration und damit des Wiedererleben traumatischer Situationen in Form spezieller Techniken beinhalten (s. 3). Stabilisierung und Ressourcenarbeit dienen der Vorbereitung des Durcharbeitens ebenso wie die Trauerarbeit zur Integration und Nachbereitung der kognitiven Neubewertung führen soll.
Diese seinerzeit neue Einrichtung setzt als pädagogisches Mittel eben auf die Stabilisierung und Ressourcenbildung und ergänzt den pädagogischen Alltag unter anderem durch das Training von entsprechenden Übungen und Verhaltensweisen, Gestaltung von Gruppenatmosphäre und grundsätzlicher Transparenz aller Abläufe pro- und respektiv. Therapie kann im Einzelfall eine Rolle spielen, gilt dann aber als Sonderleistung, die konzeptionell nicht verankert ist.
Die Ziele dieser traumapädagogischen Intervention (TPI) werden im Rahmen von Selbstmanagement benannt, das die nötige Verhaltenskontrolle und Normalisierung von Wahrnehmungsmustern mit sich bringt.
Vor dem Hintergrund, dass eine solche Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit der speziellen Ausrichtung auf die PTBS ebenso wie andere Spezialeinrichtungen im Spannungsfeld zwischen Stigmatisierung und professioneller Hilfe gesehen (vgl. Wehner 2002, 819 f) und sogar Entspezialisierung gefordert wird (vgl. Freigang 2004, Jordan 2005), bleibt dennoch die allgemeine Problemstellung erhalten, dass alle Einrichtungen der Jugendhilfe den Auftrag haben, Unterstützungsszenarien für diese Kinder und Jugendlichen zu entwickeln und durchzuführen. Erfolgreiche Maßnahmearten und pädagogische Interventionen stehen misslungenen Hilfeplanverläufen und Abbrüchen aus der stationären Heimerziehung gegenüber.
Welche Faktoren tragen zur Verringerung von Belastungen bei? Wie stellen sich Belastungen, resultierend aus traumatischen Erfahrungen, im Verhalten, das als auffällig beschrieben wird, im Alltag dar? Ziel bleibt im weiteren Sinne sowohl die Überprüfung traumapädagogischer Interventionsformen wie auch die Ergänzung beziehungsweise auch Differenzierung von Interventionsformen auf der betreuenden Seite im Kontext der Hilfen zur Erziehung.
Perspektivbildung auf das Thema
Im Hinblick auf die verschiedenen Perspektiven, die sowohl von den Hilfen zur Erziehung (s. 2), der Psychotraumatologie (s. 3) und des Empowerments (s. 4.3) eingenommen werden und die belasteten Kinder und Jugendlichen in der stationären Heimerziehung fokussieren, ist für die weiteren Ausführungen festzustellen, dass das traumatologische Verständnis richtungsweisend ist.
Nach den deskriptiven Erläuterungen der einzelnen Fachgebiete und ihren Schnittmengen ergibt sich die traumapädgogische Ausrichtung insbesondere in den interpretativen Zusammenhängen im Rückgriff auf die traumatologische Terminologie. Das bedeutet auch, dass nach der Datenerhebung sowie Strukturierung und Gewichtung der Daten im Rahmen der Grounded Theory ein traumatologisches Grundverständnis bei der Erschließung der Erlebenswelt der befragten Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund gerückt wurde. Des Weiteren ergeben sich auch in der Zieldimensionierung Perspektiven, die ausgerichtet sind auf die Verringerung der belastenden Folgen von traumatologischem Erleben, sich darstellend in der alltagsorientierten Stabilisierung der gesamten Persönlichkeit insgesamt oder in Anteilen bis hin zur Integration von Gewalt und Ausbeutung, Bindungsverlusten- und Unsicherheiten, Abwertung und Ausgrenzung, um einige Formen aus der Vielfalt der Belastungen zu nennen.
Das traumatologische Verständnis spiegelt sich auch in der Erhebung von Stärken und Kompetenzen als Äquivalenz zur Belastung in all ihren Erscheinungsformen und in ihrer Funktion zur Bewältigung der Folgen des traumatischen Erlebens unabhängig vom Erleben in Permanenz, aktuellem Erleben nach der Aktivierung von Auslösern und/oder Kombination von beidem.
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